In dieser vom amerikanischen Stress-Experten Peter Levine in den 70er Jahren entwickelten Traumaarbeit wird die faszinierende Frage beantwortet: „Warum werden in der Wildnis lebende Tiere nur selten traumatisiert, obgleich sie ständig großen Gefahren ausgesetzt sind?“
Die körperlichen Reaktionen verstehen, die während einer Bedrohung ablaufen
Durch das Verständnis der Vorgänge, die wilde Tiere vor der Entwicklung von Traumen bewahren, kann das Rätsel menschlicher Traumatisierung verstanden und beeinflusst werden, so die Überzeugung von Levine. Denn die meisten anderen Therapiemethoden berücksichtigen in der Regel nicht in ausreichender Weise die während eines bedrohlichen Ereignisses ablaufenden körperlichen Reaktionen.
Wilde Tiere werden deshalb nicht nachhaltig traumatisiert, da sie über angeborene Mechanismen verfügen, die es ihnen ermöglichen, die hohe, im Überlebenskampf mobilisierte Stress-Energie wieder abzubauen. Dies zeigt sich hauptsächlich in Form eines Zitterns und/oder vertiefter Atemzüge.
Beim Menschen wird diese instinktive Reaktion jedoch meist vom rationalen Teil des Gehirns kontrolliert, gehemmt oder gar verhindert. Der Organismus reagiert jedoch wegen des blockierten Alarmzustandes weiterhin auf die Bedrohung der Vergangenheit, weil diese noch nicht zum Abschluss gekommen ist. Somit sind die in der Gegenwart zu beobachtenden Reaktionsweisen, Verhaltensmuster, Überzeugungen, Gedanken und Gefühle der Person oft noch mit den erschreckenden Erfahrungen der Vergangenheit verkoppelt.
Wenn Sinneswahrnehmungen an vergangene Erfahrungen erinnern...
Kennen Sie das? Sie hören ein Geräusch, zucken zusammen, Ihr Atem stockt, das Herz rast und ein bedrohliches Gefühl überkommt Sie? Oder: Es fällt Ihnen auf, dass Sie beim Autofahren die letzte Zeit immer angespannt sind, der Nacken schmerzt, Ihre Hände feucht sind, Sie langsamer fahren, schneller erschrecken, vorher schon Bauchweh haben? Oder: Sie bemerken, dass Sie plötzlich wie neben sich stehen, nicht mehr in der Lage sind, ein Gespräch weiter zu führen und die Welt wie durch eine "Glocke" wahrnehmen?
Wenn Ihnen solche Situationen bekannt vorkommen, dann reagieren Sie jeweils ganz unbewusst auf etwas, was Sie hören, riechen, sehen oder beobachten. Das heißt, Ihr Nervensystem verarbeitet in einem Bruchteil einer Sekunde eine Sinneswahrnehmung, die Sie möglicherweise an eine Erfahrung in der Vergangenheit erinnert.
Instinktiv reagiert der Körper mit einem angeborenen, biologischen Abwehrmechanismus, den wir mit den Tieren gemeinsam haben. Der Körper stellt alle Energie zur Verfügung, um sich auf Kampf oder Flucht vorzubereiten.
... ist die biologische Abwehrreaktion nicht zum Abschluss gebracht worden
In Situationen, die in einem extremen Maß unsere physiologischen oder seelischen Grenzen verletzen, die wir als ausweglos erleben oder in denen wir uns ausgeliefert fühlen, kann Flucht oder Kampf unmöglich sein. Die biologische Abwehrreaktion kann dann nicht zum Abschluss gebracht werden, so dass diese enorme Energie wie „eingefroren“ wird - und im Körper geschieht eine Erstarrung (Totstell-Reflex).
Dies können z.B. traumatische Ereignisse wie Unfälle, Stürze, schwere Verletzungen und Krankheiten, Gewalt, Zeugesein von Gewalt, Mißbrauch, Krieg, Naturkatastrophen, plötzlicher Verlust eines nahen Menschen, invasive medizinische oder zahnmedizinische Behandlungen sein.
Bleibt der Körper durch ein Trauma in einem Zustand der Alarmbereitschaft oder der Erstarrung (Immobilität) gefangen, können sich daraus auch noch nach Jahren Symptome und chronische Krankheiten entwickeln, die dann als posttraumatische (= erst nach dem traumatischen Ereignis entstandene) Belastungsstörung bezeichnet werden.
Vielfältige Symptome erinnern an eine (längst vergessene) Belastung
Symptome wie Übererregbarkeit, Ängste, Panik, Überaktivität, Überempfindlichkeit, existenzielle Hilflosigkeit, Erschöpfung, Depression, chronische Schmerzen, Schlaflosigkeit, Fibromyalgie, Rückenschmerzen, Probleme des Immun- oder des Verdauungssystems können auf eine posttraumatische Belastungsstörung schliessen.
Somatic Experiencing ist eine Methode zur Überwindung von posttraumatischen Störungen und zur Befreiung der darin gebundenen Lebensenergie. Dr. Peter Levine entwickelte sie auf der Grundlage neurophysiologischer Studien und seiner Beobachtung an Tieren.
Nach seinem Verständnis geschieht Heilung von Trauma durch eine schrittweise Entladung des Nervensystems bzw. durch das Vervollständigen der biologischen Abwehrreaktion und des Verteidigungsmechanismus. Unter Einbeziehung der körperlichen Wahrnehmung werden zunächst Erdung, Zentrierung und Ressourcen gebildet, die zum Zeitpunkt des traumatischen Ereignisses fehlten oder zu schwach waren. Von dort aus geschieht eine schrittweise Annährung an eine überwältigende Situation.
Das traumatische Ereignis wird „neu verhandelt“ – für das Nervensystem ...
Mit Somatic Experiencing wird das traumatische Ereignis körperlich und geistig „neu verhandelt“. Dabei ist nicht das Ereignis selbst entscheidend, sondern die Reaktionsweise des Nervensystems, d.h. wie die physiologischen Regulationskräfte des Nervensystems mit der Bedrohung fertig geworden sind. Mit dieser Traumatherapie ist es möglich, ohne Inhalt oder Erinnerung zu arbeiten, wenn das Ereignis emotional zu belastend erscheint. Eine mögliche Re-Traumatisierung bei der Aufarbeitung wird vermieden, indem die „eingefrorene“ Energie in kleinen Dosen „aufgetaut“ wird und schrittweise zur Entladung kommt. Durch das Aufspüren und Wiederbeleben dieser biologischen, körperlichen Abwehrkräfte, entsteht aus dem traumabedingten Gefühl von Lähmung und Erstarrung ein Gefühl von Lebendigkeit und eine Eröffnung von neuen Möglichkeiten und Lebensfreude. Die tief verankerten Nachwirkungen von Trauma können sich schonend auflösen.
Gelingt es dem Menschen die biologischen Prozesse schrittweise und langsam zu vervollständigen, so kann die Person wieder Zugang finden zu ihren angeborenen, lebenswichtigen Reaktionsmöglichkeiten wie Orientierung, Flucht, Kampf, Verteidigung, und so ihre volle Lebensenergie zurückgewinnen, die zum Zeitpunkt der Überwältigung nicht zur Verfügung stand, bzw. eingefroren ist.
... damit aus dem Gefühl der Lähmung und Erstarrung wieder Lebendigkeit und Lebensfreude wird Aus einem „Ich kann nicht“ wird ein „Ich kann“; aus Übererregung und Hab-acht-Stellung werden Entspannung und Vertrauen; aus einem Gefühl der Lähmung und Erstarrung wird Lebendigkeit und Lebensfreude.
Somatic Experiencing ist ein einzigartiger Ansatz zur Traumabewältigung. Es ist weder ein psychotherapeutisches Verfahren noch eine körpertherapeutische Methode. Es ist vielmehr ein Basiskonzept zum Verständnis, zur Prävention und zur Bewältigung von Schock- und Traumafolgen. Diese Methode lässt sich auch sehr gut in andere Therapieverfahren integrieren oder kann ergänzend angewandt werden. Die Dauer der Anwendung ist abhängig von der Art des Traumas und davon, wie lange es zurückliegt und über welche Ressourcen der Betreffende verfügt.